Fortschreitende und verkettete Schäden des AKWs Neckarwestheim II (GKN II)
Fachgutachten belegt hohes Risiko
Atomaufsicht unterschätzt das systematische Versagen der alten Reaktor-Anlage - Aufforderung zum Fachgespräch
Warum erlaubten Landesregierung und Atomaufsicht den Weiterbetrieb des Pannen-AKWs Neckarwestheim II ab Sonntag Abend 22.9.19?
Jede andere Anlage wäre bei einer solchen Verkettung ungeklärter Schäden, falscher Bedienung und entweder in der Jahresrevision übersehener oder sogar erst entstandener Defekte außer Betrieb genommen worden.
Statt dessen überbieten sich Aufsicht und Betreiber gegenseitig in Intransparenz und Vernebelungstaktik, statt die Bürger und Bürgerinnen zu informieren.
Selbsthilfe zur Aufklärung
Diplom-Ingenieur Hans Heydemann, langjährig im Anlagenbau im Bereich Hochdruck-Dampferzeugungsanlagen sowie zugehörige Speisewasser-Aufbereitungsanlagen tätig gewesen, hat als Mitwirkender der Arbeitsgemeinschaft AtomErbe Neckarwestheim eine fachtechnische Stellungnahme zu den GKN II-Problemen erstellt, auf Grundlage der verfügbaren Informationen und seiner fachlichen Expertise.
Sein Gutachten stellt dar, dass die Atomaufsicht in verschiedenen Bereichen von falschen Annahmen ausgeht und falsche Schlüsse zieht. Das Vertrauen der Atomaufsicht in die technisch überholte und über 30 Jahre lang massiv gealterte Anlage ist ebenso wenig gerechtfertigt wie der Glaube, dass sich Störfälle an die Regeln des Betriebshandbuchs halten und dass auch immer nur ein Problem gleichzeitig auftrete.
Fahrlässige Vereinfachungen seitens der Atomaufsicht
Dipl.-Ingenieur Heydemann belegt Fehleinschätzungen der Atomaufsicht unter anderen in diesen Bereichen:
- die Folgen des Abrisses eines Heizrohres in einem Dampferzeuger lassen sich nicht sicher kontrollieren.
- die Prüfungen an den Heizrohren waren unvollständig, wesentliche weitere, aber bislang unbekannte Korrosionsstellen können nicht ausgeschlossen werden.
- Schäden durch Spannungsrisskorrosion können extrem an Tempo gewinnen und warten nicht bis zur nächsten Revision.
- eine ausreichende Reinigung des Rohrbodens und der Abstandshalter ist nicht vorstellbar.
- neben dem Abreißen von Rohren kann auch das Aufreißen in Längsrichtung massive, nicht kontrollierbare Lecks hervorrufen.
- das Abreißen von Rohren kann so schnell gehen, dass der Reaktor nicht mehr schnell genug heruntergefahren werden kann.
- die sich beim Herunterfahren des Reaktors wegen eines Schadens ergebenden und die aus dem Schaden selbst möglicherweise entstehenden Druck-, Temperatur- und Borkonzentrations-Veränderungen können kombiniert relativ leicht zu Dampfbildungen und anderen lokalen Problemen führen, die nicht alle kontrollierbar sind.
- dass sowohl 2017 als auch erneut 2018 Atomaufsicht und EnBW Schweregrad, Ursachen und Prognose der Schäden falsch eingeschätzt haben, lässt keinesfalls erwarten, dass sie nun plötzlich 2019 alles richtig einschätzen, zumal eine Reflexion ihrer vorherigen Fehleinschätzungen fehlt.
- dass direkt nach Abschluss der Revision das bereits begonnene Wiederanfahren des Reaktors gleich wegen zweier gravierender Probleme wieder abgebrochen werden musste (ein Leck und ein Montagefehler) zeigt mindestens ein Versagen der Qualitätssicherung.
Offene Fragen bedeuten Blindflug
Wie leider von früheren Störfällen bekannt, verschiebt die Atomaufsicht die Ursachenklärung mal wieder in die Zukunft, schafft aber mit der Anfahrerlaubnis riskante Tatsachen.
Konkret ergeben sich aktuell u.a. diese Fragen:
- wurde die Dichtigkeit der Rohre wirklich geprüft, oder wird sie nur abgeleitet und vermutet?
- wieso wird es toleriert, dass seit Jahren nicht geschlossene Lecks in den Kondensatoren vorhanden sind?
- wieso zieht die Atomaufsicht keine Konsequenzen aus dem jahrelangen, systematischen und schwerst wiegenden Fehler der EnBW, dem Wasser im Sekundärkreislauf korrosionsfördernden Sauerstoff zuzusetzen?
- muss nicht angenommen werden, dass auch das Vorwärmer-Leck auf Spannungsrisskorrosion zurück zu führen ist?
- müssen nicht bei der teilweise extreme Zunahme der sich in den Dampferzeugern absetzenden Korrosionsprodukte alle Warnlampen bei der EnBW und im Ministerium angehen?
- warum ignoriert die Atomaufsicht, dass sowohl die Rohrkorrosion und das Vorwärmer-Leck im GKN II (und übrigens auch die Rohrkorrosion im AKW Lingen) als auch die erhöhte Oxidierung der Brennelemente im KKP 2 als auch die Serien von Schäden z.B. an Notstromdieseln und Brandschutzklappen der baden-württembergischen AKWs (und anderswo) Belege einer nicht mehr hinnehmbaren Alterung all dieser Atomkraftwerke sind?
Fazit
Grobe Anlagensteuerungsfehler der EnBW, Oberflächlichkeit der Atomaufsicht, schwerste Anlagen-Alterung, Aufweichen früher aufgestellter Regeln zu Redundanz und Sicherheitsreserven, Spardiktat bei der EnBW - alles das sind Faktoren, die eine klare Konsequenz fordern, schon unabhängig von allen anderen Gefahren und Schäden durch die Atomkraft: Neckarwestheim II und Philippsburg 2 sofort und endgültig abschalten!
Die Arbeitsgemeinschaft AtomErbe Neckarwestheim (Bürgerinitiativen und BUND-Regionalverband Heilbronn-Franken) fordert die Atomaufsicht von Minister Untersteller auf, das Gutachten von Dipl.-Ingenieur Hans Heydemann intensiv zur Kenntnis zu nehmen und rasch ein Fachgespräch mit uns zur Besprechung der strittigen Sachverhalte anzubieten.
Sie erhalten das Gutachten als Anhang dieser Pressemitteilung, und die Zusammenfassung des Gutachtens finden Sie auch auf der folgenden Seite:
Zusammenfassung der fachtechnischen Stellungnahme
Im Atomkraftwerk Neckarwestheim GKN Block II werden seit der Betriebsrevision 2017 zunehmend immer weitere Korrosionsschäden mit teilweise sehr erheblichen Wanddicken-Verschwächungen bis 91% (!) an den Heizrohren der Dampferzeuger festgestellt. Waren es 2017 noch insgesamt 32 Schadensbefunde, so erhöhten sich diese in 2018 auf 101 Schadensbefunde; bei der Revision 2019 wurden 191 Schadensbefunde festgestellt.
Bei etwa zwei Drittel davon handelt es sich um Spannungsriss-Korrosion. Rohre mit festgestellten Wanddicken-Verschwächungen von über 30% wurden beidseitig durch Stopfen dicht verschlossen. Das Umweltministerium Baden-Württemberg als zuständige Aufsichtsbehörde hat dem Wiederanfahren des Reaktorblockes bereits zugestimmt.
Ein Weiterbetrieb des Reaktors ist jedoch nicht zu verantworten. Die festgestellten Schäden an den Heizrohren sind erheblich und führen bei Weiterwachsen unweigerlich zum Bruch der Rohrwand. Zwar sind die als gefährdet erkannten Rohre abgestopft worden und stellen selber keine Gefahr mehr dar. Die Korrosionen an den nicht abgestopften Rohren gehen aber weiter, und es muss mit dem Auftreten neuer Schäden gerechnet werden. Zudem wurden nur die jeweils unteren Enden der Heizrohre auf jeweils etwa 2 m Länge geprüft; das entspricht lediglich knapp 20% der Gesamt-Länge – 80% sind nicht auf Schäden überprüft - und auch nicht überprüfbar! Jeder Dampferzeuger ist mit je 4.118 Heizrohren von 22 mm Ø mit einer Gesamtlänge von rd. 85.000 m bestückt. Davon wurden nur etwa 16.000 m untersucht; über die übrigen 4 x 59.000 m gibt es keinerlei Aussagen über den Zustand der Rohre. Es ist folglich davon auszugehen, dass noch viele weitere, bisher nicht festgestellte Schäden an den Heizrohren vorhanden sind, die jederzeit zum Versagen führen können.
Die nur 1,2 mm dicken Rohrwände stellen die Trennstelle zwischen dem Radioaktivität führenden Primärkreislauf und dem dampfführenden Sekundärkreislauf dar. Schon bei einer geringen Undichtigkeit eines Heizrohres gelangt folglich unvermeidbar Radioaktivität in den Sekundär-Kreislauf und damit letztlich in die Umwelt. Bei Bruch eines Heizrohres tritt radioaktives Primärkreis-Wasser in den Dampfkreislauf über. Reißt ein Heizrohr auf, werden durch die dabei freigesetzten Kräfte weitere Rohre aufreißen; es kommt zu einem Kühlmittelverlust im Reaktor, der außer Kontrolle geraten und zu einem nicht mehr beherrschbaren Störfall bis hin zur Kernschmelze führen kann wie die Reaktor-Katastrophen 2011 von Fukushima und 1986 von Tschernobyl sowie 1979 des TMI-Reaktors von Harrisburg / USA.
Als Ursache für die Korrosionsschäden an den Heizrohren werden vom Betreiber angeführt:
- Eisenoxid-Eintrag (Rostpartikel), hervorgerufen durch Sauerstoff-Zugabe in Dampfkreis
- Ablagerungen salzhaltiger Verunreinigungen aus Leckagen am Kondensator
Diese sind Folgen einer unsachgemäßen Speisewasser-Aufbereitung und Nachlässigkeiten bei den jährlich durchgeführten Revisionen (v.a. Kondensator-Leckagen). Die getroffenen Abhilfemaßnahmen sind unzureichend und können den Korrosionsvorgang nicht stoppen.
Die weitere am 16.9.19 aufgefundene Undichtigkeit, wenn auch am „konventionellen Kraftwerksteil“, und die daraus folgende erneute Verschiebung der Wiederinbetriebnahme von Block II zeigt einmal mehr den insgesamt schlechten und abgewirtschafteten Zustand des Atomkraftwerkes Neckarwestheim nach nunmehr rund 31 Jahren Laufzeit.
Ein Weiterbetrieb verbietet sich damit von selbst sowohl aus Sicherheitsgründen sowohl für die Kraftwerksbelegschaft und für die Bevölkerung in weitem Umkreis sowie auch aus wirtschaftlichen Gründen für die EnBW als Eigner und Betreiber wegen der immer stärker steigenden Aufwendungen zur Instandhaltung und Instandsetzung des inzwischen überalterten Atomkraftwerkes Neckarwestheim II.
Dipl.-Ing. H. Heydemann, Stuttgart